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Das Gewicht der Dinge                                                                                                       ENG

Über Patrick Bienerts Fotografien vom östlichen Rand Europas

Von Florian Illies

 

Wie schwer ist Europa? Wie schwer ist die Last der Geschichte? Und wie schwer die der Zukunft?  Von diesen Fragen erzählen die Fotografien Patrick Bienerts. Er ist ein diskreter Mensch und ein diskreter Beobachter, er verschwindet fast hinter seiner Kamera, damit nicht er, sondern deren Linse der Ort ist, an dem sich die Energie des Gegenübers und dessen Umgebung bündelt. Bienert ist immer wieder nach Georgien gereist, an den Rand Europas, ein fernes Land, das sich selbst sucht, obwohl es so eine reiche, einzigartige Geschichte hat und dennoch in der Gegenwart ein wenig verloren wirkt. Es sind ungeheure Gesichter, die Patrick Bienert hier gefunden hat, voll Stolz, voll archaischer Schönheit und doch zieht über jede Wange der Windhauch der Vergeblichkeit. „Die Zeit arbeitet als Vergessen immer gegen das Erinnern“, so hat Hartmut Böhme geschrieben, und man sieht, wie Bienert mit diesem Projekt genau dem entgegenarbeiten will: die Kostbarkeit des Moments einfangen – damit er nicht wegläuft.  

In welcher Zeit spielen eigentlich diese Fotografien? Eines scheint klar zu sein: Nicht in der Gegenwart. Auch wenn irritierenderweise das Entstehungsdatum in den Jahren 2015 bis 2018 liegt, so glaubt man doch immer, man sehe hier hinein in die Zukunft oder in die Vergangenheit und man nimmt verstört zur Kenntnis, dass dies bei Patrick Bienerts Blick auf Georgien kaum zu unterscheiden ist:  A past to come.

Und an welchem Ort spielen eigentlich diese Fotografien?  Ist Georgien wirklich der Balkon Europas? Oder doch die Abstellkammer Rußlands? Ein christliches Land zwischen der Türkei, Rußland und Aserbaidschan, einst von den Römern besiedelt, weshalb dort Wein angebaut wird länger als an fast jedem anderen Ort der Erde, doch neben den Trauben galt die Hingabe der Menschen früh dem Eisen, bereits im dritten Jahrhundert vor Christus war Georgien die Waffenschmiede der Antike. Von all dem erzählen diese Fotografien: von der Tiefe und der Untiefe der Geschichte, dem Transitorium zwischen Europa und Asien, den Resten der sowjetischen Unterdrückung und der christlichen Moral, den Aromen des Weins und der metallischen Härte.

Patrick Bienerts Serie ist aber vor allem auch ein Portrait einer, nein: seiner Generation. Es ist ein Portrait der Fragilität, eines Hineingeworfenseins in einen historischen und geographischen Ort. Er komponiert sehr subtil, eine ungeheure Stille vibriert in diesen Fotografien, es sind Paarungen von großer Eindringlichkeit, die er zusammengestellt hat, Bilder, die zusammengehalten werden durch die tiefen Verwurzelungen der Landschaft und der Gebäude mit den Menschen in ihnen.

Ich liebe die Gesichter, die diese Fotografien zeigen, man kann sie sich nur in Schwarz-Weiß vorstellen, was in diesem Fall natürlich vor allem heißt: in Grau. In tausend Nuancen von Grau, die über die Gesichter huschen, die die Augen verdunkeln und die Haare erhellen.

Wir schauen in Augen voll Sinnlichkeit und Trauer, wir sehen das Mädchen, das im Tanz mit offenen Ohren und geschlossenen Lidern ganz versinkt in ihren inneren Orient, und daneben die junge Frau, die den Fotografen anblickt, als wisse sie ganz genau, was noch auf sie wartet in diesem Leben: wenig. Aber das ist mehr als nichts. Und das Herz ist eben nicht nur ein Muskel bei diesen Frauen, sondern ein Zentralorgan, man spürt, wie sie alle es im Zaum zu halten versuchen, aber wie es doch laut und vernehmlich schlägt, das sind vielleicht die einzigen Geräusche die man hört auf Patrick Bienerts schweigsamen Portaits.

Die Haare spielen eine große Rolle bei diesen Fotografien, die Frisuren sind so zeitlos wie die Menschen, man glaubt immer wieder, man sei im Bauhaus und in den 1920er Jahren, dann im Paris um 1940, in Kalifornien 1960, diese jungen Frauen schauen einen an, als kämen sie aus jeder erdenklichen Zeit, nur garantiert nicht aus einer: der Gegenwart. Und dabei leben sie natürlich genau dort, suchen ihre Rolle in einer Gesellschaft, in der sie sich eigentlich unterordnen sollen aber in der längst jeder begriffen hat, dass sie die Starken sind. Genau das hat Patrick Bienert in den Blicken dieser Frauen erkannt: ein Bewußtsein über die eigene Stärke, aller Zerstörung und Hoffnungsarmut zum Trotz, eine Ruhe, ein Wissen, daß das Leben eben doch auch ein Wachsen sein kann auch wenn um einen herum alles nach unten zu ziehen scheint, mit einem Gewicht wie von Blei. Es sind Gesichter, die sich gegen diese lähmende Schwere behaupten, die der Geschichte und die der Zukunft - und die dieser Schwerkraft ihre stärkste Waffe entgegenhalten: ihren Stolz, ihre Würde. Es ist bestechend, wie Patrick Bienert dies eingefangen hat. 

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